Ahnungsvoll und ungewöhnlich.

 Bernhard G. Lehmanns Skulpturen und die Garten-Natur.

Mit Dante Alighieri und Giovanni Boccaccio bildet Francesco Petrarca (1304-1374) jenes Dreigestirn, das dem italienischen Trecento, dem 14. Jahrhundert, den Ruf einer literarischen Blütezeit ingebracht hat. Auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance bildete sich mit dem humanistischen Lebensgefühl die Idee eines neuzeitlichen Menschen heraus, die Petrarca in besonderer Weise verkörpert. Immer wieder wird die Schilderung seines Aufstiegs zum provencalischen Berg Mont Ventoux zitiert, die Petrarca 1336 unternahm. Das Neuartige an dieser Schilderung besteht in der Naturwahrnehmung, die sich von der symbolischen Landschaftserfahrung des Mittelalters abhebt. Hier kommt ein Ich zur Sprache, welches das eigene konkrete Erleben von Raum und Zeit nicht mehr in einem göttlichen Zusammenhang aufgehoben sieht. Einige Interpreten haben diesen Brief deswegen auch als die Geburtsurkunde der modernen Subjektivität gelesen. Dieser humanistischen Leitidee folgend hat der italienische Philosoph Giordano Bruno (1546-1600) den Gedanken der Unendlichkeit des Universums entwickelt. Seine Dialoge ”Über das Unendliche”, die wie alle seine Werke von der Kirche von 1603 bis 1965(!) auf den Index gesetzt wurden (Bruno wurde von der katholischen Inquisition als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt), öffnen nicht nur den Blick für die Aufgehobenheit jedes individuellen Lebens in der Prozessualität der Natur, sondern auch für die Ethik eines von unendlichen Leben erfüllten Raumes: die Akzeptanz aller auf anderen Kontinenten oder auf anderen Welten möglichen Kulturen, Lebensweisen und die Achtung aller Arten des Lebendigen. Für Bruno ist die in der Natur wirkende Ursache die Weltseele. Was die Künstler in Gärten gestalten, hat aus diesem Grunde für ihn auch viel mit der inneren Realität zu tun. Als „innerer Künstler“ (Bruno) gestalten sie den Garten von innen heraus zur Vielfalt der Natur. Bewegung, Wachstum und Schwund, Leben, Prozess und Tod ereignen sich als Zu- und Abfluss (influxus und effluxus), als Zusammenballung und Auflösung (agglomeratio und exglomeratio) von Partikeln und Atomen. In den Gärten der Kunst herrscht eine Ästhetik des nicht-linearen oder atomistischen Spiels vor: Dinge passieren nicht nacheinander wie in einer chronologischen Erzählung, sondern neben- und übereinander wie überblendete Fotos.

In den folgenden Jahrhunderten wird der Garten als Lebensraum, als offener Aktionsraum, als All, als Winkel der Welt und als ein Kosmos der Poesie, Poesie des Raumes, Poesie der Pflanzen, Poesie des Lebens aufgefasst und wahrgenommen.

Dem mystischen Naturdichter und Wegbereiter des Umweltschutzes, Henry David Thoreau (1817-1862) ging es um ”home cosmography”. Um die Wunder der Natur zu entdecken, brauche man keine Expeditionen in unerforschte ferne Gegenden zu unternehmen, sondern könne sich mit der Hinwendung an die Fauna und Flora der eigenen Heimat begnügen, weil das unermessliche Wunder des ganzen Kosmos in der geringsten Naturerscheinung präsent und erfahrbar sei. Für Thoreaus Lehrmeister Ralph Waldo Emerson (1803-1882) war die Natur sogar weitaus mehr als nur eine Welt materieller Erscheinungen. Sie war in erster Linie die ”sprachliche” Offenbarung des immateriellen Seinsgrundes, der Allseele.

Die Sehnsucht nach dem ”Grünen Ort” ist vielleicht nichts anderes als eine verlorene Poesie. Ein Poet darf schreiben: ”Das Wogen der Hecken / Ich hab es in mir.” Man ”schreibt einen Garten”, man ”liest einen Garten”, die Leser erinnern sich, beginnen an einen Garten in ihrer Kindheit zu denken. Jeder Garten erzählt eine, seine eigene Geschichte. In Gedichten und Kunstwerken berühren die Künstler den poetischen Grund des Gartens – und des Selbst. Die Aufforderungen ”Erkenne dich selbst“ und ”Erkenne die Natur!” stehen für das gleiche Ziel.

Der Garten ist für zeitgenössische Kunst eine Integrationsmacht, was die Wiederherstellung eines Ganzen meint. Soweit zu der magischen Anziehungskraft von Gärten, den ahnungsvollen und ungewöhnlichen Orten. Aber eben ein ”Garten-Raum”, ein abseits des Tages- und Straßenlärms versteckter Ort – ein schöner, aber auf den ersten Blick unscheinbarer Garten, aber wiederum auch ein Kleinod innerhalb einer verbauten, industrialisierten Welt – Gärten bringen einen gewissen Eigensinn mit sich, so der Soziologe Peter Arlt. Arlt führt weiter aus: ”Diese Orte (die Gärten) sind nicht gänzlich determiniert. Diese Orte haben offene Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Ungewöhnliches durchbricht, das zur harten Wirklichkeit das Gegengewicht hält. Sie lassen Platz für den, der sie ansieht.” (Zitiert nach: Paolo Bianchi: Künstlergärtner. Vom spektakulären Ort der Land Art zum gewöhnlichen Ort der Plant Art. In: Kunstforum International, Bd. 145, Mai-Juni 1999, S.48-58, S. 52)

Der Künstler Bernhard G. Lehmann greift das Ahnungsvolle, das Ungewöhnliche dieses Ortes auf und interpretiert es in künstlerischer Weise. Lehmanns Skulpturen lösen diese ”innere Realität” (Bruno) gänzlich ein. Seine Skulpturen ermöglichen eine intensivere Wahrnehmung von Natur, Form und Farbe, generell des Wesens von Natur. Es geht ihm um einen Rückzug mit Voraussicht, um einen retrovisionären Umgang mit der Natur ohne jeden Hang zur idyllischen Verklärung und ohne den Willen, sie als eine Art Übermacht darzustellen.

Bernhard G. Lehmanns Kunst passt nicht in den globalen Zeittrend veräußerter Intimität und flexibler Menschen – stattdessen wirkt seine Kunst in ahnungsvollen und ungewöhnlichen Räumen – den Gärten, in abseitigen kleinen Welten. Und seine Kunst integriert sich in das künstlich-natürliche Umfeld in besonderer Weise, weil die Skulpturen es vermögen, die Natur künstlerisch zu erweitern, zu interpretieren und in ein neues Licht zu stellen.

Zuerst sei auf die Material-Strukturen seiner Arbeiten hingewiesen: Sowohl der rote Travertin als auch die Bronze-Arbeiten wie ”Limes”, etc. weisen Strukturen auf. Der Bezug zur Natur liegt auf der Hand: allzu bekannt sind uns die strukturierten Oberflächen von Blättern, Baumrinden oder Gräsern. Bruno sprach von der Vielfalt der Natur, von Aspekten wie Bewegung, Wachstum und Schwund, Leben, Prozess und Tod, die sich als Zu- und Abfluss (influxus und effluxus), als Zusammenballung und Auflösung (agglomeratio und exglomeratio) von Partikeln und Atomen ereignen. Natur und Bewegung – Elemente, die wir unmittelbar in Verbindung bringen. Auch Bernhard G. Lehmanns Arbeiten verschreiben sich der Bewegung. Insbesondere die Objekte mit den langen Stahlstangen (z.B. ”Taiga song”, 1993) ahmen das Gras, die Sträucher nach, die ja auch Geräusche entwickeln. Genau genommen ahmen sie das Vegetarische aber nicht nach, sondern sie finden ihre eigene Formsprache, die eine Ahnung gibt von Bewegungen in der Natur.

Auf andere Weise lassen sich die Arbeiten, wie z.B. ”ohne Titel”, 1997, mit der Natur vergleichen. Diese Skulptur gibt ihr Bewegungspotential erst über einen direkten Anstoß des schwebenden Dreiecks preis, um sich dann wie ein Erzittern über die ganze Skulptur auszubreiten. Wie ein Erdbeben, das aus der Tiefe des Erdinneren nach oben strebt.

 

Aber gerade diese Arbeiten, die nicht direkte Verweise liefern, machen Methoden und Prinzipien deutlich, weil man nicht abgelenkt wird durch einen unmittelbaren Vergleich von Kunst und Natur. Bei diesen Arbeiten werden vielmehr Prinzipien deutlich, Prinzipien von waagerechter Bewegung, balancierender Bewegung, harmonischer Bewegung, ruckartigen Bewegungen, starken und schwachen Bewegungen usw. Der Künstler macht auf Axiome aufmerksam, die wir in der bewegten Natur oftmals nicht mehr wahrnehmen.

Mit anderen Worten beschrieb der Künstler George Rickey die Bewegungsprinzipien, die seinen, in den 1960er Jahren entstandenen, Skulpturen zugrunde liegen: ”Obwohl ich die Natur nicht nachahme, bin ich mir Ähnlichkeiten bewusst. Wenn meine Skulpturen manchmal wie Pflanzen oder Wolken oder Wellen des Meeres aussehen, liegt dies daran, dass sie denselben Gesetzen der Bewegung gehorchen und sich denselben mechanischen Prinzipien unterordnen. Periodenhaftigkeit produziert gleiche Bilder im Sand, im Wasser, in einem Hüpfseil und einem Oszilloskop, aber keines davon ist eine Aufzeichnung des anderen.” (Zitiert nach: Manfred Schreckenberger: Skulpturen und Objekte. In: Ingo F. Walther (Hg.): Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 2002, S. 403-619, S. 501)

Die weiteren Paradigmen Brunos, wie Wachstum und Schwund, Leben, Prozess und Tod, sind mit dem Faktor Zeitlichkeit verbunden. Und welches Symptom bei Lehmanns Skulpturen verweist besser auf das Vergehen als Rost? Oxidieren als sichtbares Zeichen von chemischer Reaktion zwischen Stahl und Luft gibt Ausschluss über Umwandlungsprozesse, über Vergehen. Denn Vergehen ist ja nichts anderes als die Modifikation von einem Stofflichkeitszustand in einen anderen.

Ein Vergleich mit einem Schaffens-Höhepunkt des Dichters, Grafikers, Bildhauers und Objektkünstlers Dieter Roth (1930-1998) soll dies verdeutlichen. Im Verlauf der 1990er Jahre entstand das „Schimmelmuseum“ in einer ehemaligen Remise im Hamburger Stadtteil Harvestehude. Das von einem Mäzen zur Verfügung gestellte Haus ist von oben bis unten mit eigens und größtenteils vor Ort entstandenen Arbeiten aus Schokolade, Zucker, Müll angefüllt. Im hier extrem fortschreitenden Verfall und im Verwesen offenbart sich ein altes Thema der Kunst als Roths zentrales Anliegen: der Ablauf der Zeit, die Vanitas, Vergänglichkeit.

Bernhard G. Lehmann denkt und konzipiert in größeren Zeitdimensionen. Den Verfall seiner Stahl- Skulpturen wird er nicht mehr erleben. Das Material und seine Eigenschaften spiegeln das Konzept und die Intension wider. In Anbetracht Bernhard G. Lehmanns Skulpturen wird deutlich, dass wir, die Generation unserer Zeitgenossen sowie alle Generationen vor uns, lediglich einen kleinen Ausschnitt des Naturgeschehens, einen Wimpernschlag im Entstehen und Vergehen der Welt und des Universums erleben und erahnen. Dieses unfassbare, die menschlichen Dimensionen übersteigende Phänomen thematisieren die Skulpturen Bernhard G. Lehmanns. Sie stellen letztlich die Fragen, die Paul Gauguin Ende des 19. Jahrhunderts auch gestellt hat: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?

Die Sensibilität, mit der Bernhard G. Lehmann vorgeht, zeigt sich darin, dass er das Geheimnisvolle nie offen legt, es immer nur andeutet. Er sorgt dafür, dass es latent vorhanden ist, er zielt aber nicht auf Überraschung.

Die Skulpturen verlangen ein kontinuierliches Herantasten. Dennoch lassen sie sich nie vollständig entschlüsseln. Darin unterscheiden sie sich von Werken, die Aufmerksamkeit um jeden Preis verlangen. Spektakuläre Werke an auffälligen Orten erschließen sich jedem sofort, weil sie sofort alles offen legen. Sie wollen überraschen und ”erschlagen”. Bernhard G. Lehmann geht behutsam vor; er kann darauf warten, dass der Suchende seine Kunst findet, sich der Betrachter ihren Sinn erschließt. Bernhard G. Lehmann nähert sich sensibel der Natur; er versteht die Kunst des Pirschens, um die jahrtausendalten Prinzipien der Natur aufzunehmen und ihr eine artifizielle Sprache zu verleihen.

Ein Zitat von Yoko Ono vermag das Anliegen Bernhard G. Lehmanns zu verdeutlichen: ”Wenn man etwa in ein Kloster eintritt, betet man jeden Morgen. Man holt aber auch jeden Morgen einen Eimer Wasser und schaut, dass es dem Garten gut geht. Es ist nicht so, dass der Mönch ein Gärtner sein möchte. Das Gärtnern gehört zu seinen Tätigkeiten als Mönch, jeden Tag etwas schön zu machen, jeden Tag für etwas Sorge zu tragen. Es geht nicht ums Gärtnern, das Gärtnern ist nur die Methode. In der Kunst ist es genauso: Sie ist nicht etwas Abgeschlossenes. Kunst öffnet die Tür zum Unendlichen.” (Zitiert nach: Paolo Bianchi: Künstlergärtner, S. 53)

Braunschweig im Januar 2006

Dr. Sven Nommensen

veröffentlicht in „Kultur in Hamburg“ Verlagsges.: Bernhard G. Lehmann, „walking“ ISBN: 3-930727-02-1