Raum aus dem Geist der Musik – Einige subjektive Anmerkungen
zur Arbeit von Bernhard G. Lehmann

Manche Objekte Bernhard G. Lehmanns bilden eine Struktur, die an Notenblätter erinnert, sie entsprechen jedoch nicht der Ordnung eines obligaten, unbeschriebenen Notenpapiers. Die Zahl der parallelen Drähte wechselt von wenigen – etwa zwei oder drei – und nimmt bis zu einer auf den ersten Blick nicht fassbaren Menge zu, sie formen sich zu Bögen, zu rhythmisch strukturierten Zeilen, sie schwingen, nur an einem Ende fest gehalten, in den freien Raum und klingen in gleichen oder unterschiedlich langen Enden aus. Sie wecken die Vorstellung, Töne erzeugen, klingen oder summen zu können, sie gleichen einer vom Raum hervorgerufenen Musik. In einigen Zeichnungen des Künstlers aus dem Jahr 2001 finden sich ähnlicher Strukturen wieder; sie tragen kennzeichnenderweise den Titel „Musikalische Wanderung“.

Dass Hans Werner Henze, der den Künstler in seinem Rendsburger Atelier besuchte, von dieser Kunst angetan war, erscheint fast als selbstverständlich, wenn auch nicht als zufällig. Der Maler und Bildhauer hatte, bevor der Komponist ihn um eine Arbeit für seinen Garten bat, den ersten Schritt auf die Begegnung hin getan. Nach dem Lesen von Henzes Lebenserinnerungen „Reiselieder mit böhmischen Quinten“ und nach dem Hören einer Sammlung von Henzes Musik, die zu dessen 70. Geburtstag erschien, schenkte er ihm eine Arbeit mit dem Titel“ Let’s talk about music“. Die Reaktion darauf erfolgte mit dem Wunsch Henzes, für seinen Garten in der Nähe Roms ein grösseres Werk zu bekommen. Die Entstehung dieser Arbeit dokumentiert eine kleine bibliophile Kostbarkeit; sie beschreibt die Entwicklung der Idee, ihr Konzept und ihre Realisierung mit Worten, die gleichfalls die Nähe zur Musik beschreiben. Da ist von Assoziationen an ein Ballett die Rede, von „drei Sätzen“, mit denen die drei unabhängig voneinander bestehenden, jedoch als Einheit komponierten Elemente bezeichnet werden. Optisch teilt sich diese Teilung als Ruhe und Statik, aber auch als Bewegung und Dynamik mit, als technisch- artifizielle Form neben und im Leben der durch den Garten geformten Natur. Die dünnen, dunklen Zweige des daneben stehenden Baumes antworten auf das Freieste der Präzision
der leuchtenden Stahlsaiten, ihre schwarze Zeichnung korrespondiert mit den hellen Linien der zum Bogen gefügten Drähte, und der Himmel über der grauen Gartenmauer spiegelt sich in den Metallflächen, mit denen die Drähte gehalten werden.

Musik und bildende Kunst stehen seit langem in einer engen Beziehung zueinander, obwohl sie sich an andere Sinne richten. Gern werden die Theorien Kandinskys, die Experimente des Komponisten und Malers Ciurlionis, auch Goethes Satz von der Architektur als einer Stein gewordenen Musik als Beleg für die Parallelität von Musik und Bildender Kunst zitiert.

Doch die Quellen für solche Idee reichen ungleich weiter zurück, etwa zur Proportionslehre, in der die Künstler der Renaissance den ästhetischen Masstab schlechthin sahen. Diese Lehre übertrug die Stufen der Tonleiter auf die harmonischen Proportionen von Räumen, Figuren und Bildgliederung. Der Architekt Leone Battista Alberti sprach, als er, auf Ficinos Kommentar zu Platos „Timaios“ gestützt, seine drei Grund-Proportionen beschrieb, von der „musikalischen“ Proportion als der harmonischsten. Sein Urteil griff jedoch nur auf, was er von Plato, Plato von den Pythagoräern wusste, diese vermutlich von den indischen Brahmanen erfahren hatten. Von ihnen übernahmen auch Buddha und die Verfasser seiner Sutren die Vorstellung von der Weltordnung in der Harmonie der Sphären – deren graphische Darstellung, die wir auf den Lotosblättern des grossen Buddhas in Nara finden, zeigt dieselben parallelen Linienbögen wie die gebogenen Drähte der Plastik in Hans Werner Henzes Garten. Zu diesen Jahrtausende und Kontinente überbrückenden Gemeinsamkeiten musikalischer und bildnerischer Überlieferungen passt es, dass Bernhard G. Lehmann zum Ehrenmitglied des Künstlerbunds von Aserbeidschan gewählt wurde, einem Land am Rand der Seidenstrasse, an der entlang die Lehren der Brahmanen nach Westen und Osten gelangten. Was uns an Bernhard G. Lehmanns Gebilden aus Stahl so neu und modern erscheint, hat ein tragfähiges Fundament, wenn dies auch weder dem Bildhauer noch dem Komponisten bewusst sein mag. Ist es das bewusst vor Augen oder Ohren Gestellte, das Kunst ihre Bedeutung gibt, oder das als selbstverständlich sich mitteilende Erbe?

Hamburg, im Januar 2006.
Prof. Dr. Heinz Spielmann